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Das Problem: Bulimie-Lernen und Methodendefizite
Viele Studierende – besonders in der Studieneingangsphase – schieben das Lernen bis kurz vor die Prüfung auf. Die Folge ist “Bulimie-Lernen”: Kurz vor der Prüfung wird alles auswendig gelernt und danach schnell wieder vergessen. Gleichzeitig haben viele Studierende nie gelernt, wie man effektiv Notizen macht, Inhalte strukturiert oder sich selbst reguliert. Diese Methodenkompetenzen werden von Lehrenden oft stillschweigend vorausgesetzt.
Um dieses Problem zu adressieren, nutzen wir in vielen Lehrveranstaltungen ein besonderes Anreizsystem: das “Klausur-Booklet“. Idee und Ablauf erläutern wir im folgenden Video (2,5 min):
Das Klausur-Booklet-System
Booklet-System im Überblick
Worum geht es? Studierende erstellen semesterbegleitend bis zu 15 handschriftliche Notizseiten und reichen diese bei der Lehrperson ein. Am Ende des Semesters werden diese zu individualisierten, farbig gedruckten A5-Booklets zusammengestellt. Dozierende können die eingereichten Seiten schon während des Semesters einsehen und zur Reflexion der Inhalte nutzen. So lassen sich Missverständnisse klären und Potenziale zur Verbesserung der Lehre erkennen.
Was passiert in der Prüfung? Die persönlichen Booklets sind zugelassene Hilfsmittel in der Klausur. Dieser direkte Nutzen motiviert zur kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem Lehrstoff und wirkt der Prokrastination entgegen.
Warum funktioniert es?
Das System nutzt positive Verstärkung:
- Wer regelmäßig mitarbeitet, hat es in der Prüfung leichter und merkt diesen Vorteil unmittelbar: Wird eine Seite nicht rechtzeitig eingereicht, so fehlt diese im Booklet – dadurch ergibt sich ein Anreiz, sich jede Woche mit den Vorlesungsinhalten zu beschäftigen
- Das Booklet wirkt wie ein „Sicherheitsnetz” und reduziert Prüfungsangst.
- Die kontinuierliche Arbeit wird direkt belohnt, nicht erst am Semesterende.
- Das abstrakte Ziel “Prüfung bestehen” wird durch konkrete wöchentliche Aufgaben operationalisiert.
Empirische Evidenz und Grenzen
Das System wird seit 2020 in etwa 10 Veranstaltungen an der Universität Bamberg erprobt, sowohl im grundständigen als auch weiterführenden Bereich, und wird von den Studierenden sehr geschätzt. Lehrende an anderen Hochschulen (z.B. Hochschule Heilbronn) haben das System ebenfalls eingeführt.
Die Evaluation von Art und Umfang der Nutzung dauert noch an. Erste Ergebnisse sind jedoch vielversprechend:
Messbare Erfolge (Auswahl)
Hohe Teilnahmequote: Üblicherweise reichen 80% der Prüflinge kontinuierlich Seiten ein, also nicht nur zu Beginn des Semesters. Etwa ein Drittel der Studierenden reicht nahezu jede der maximal 15 Seiten ein.
Qualität über Quantität: Schwache Korrelation (0,30) zwischen Seitenzahl und Noten – der Grundsatz “viel hilft viel” trifft also nicht unbedingt zu.
Psychologischer Wandel: Reduktion von Prüfungsstress durch Vertrauen in eigene Unterlagen statt Angst vor dem Vergessen.
Methodenkompetenz: Bei einigen Studierenden ist im Laufe der Zeit eine Entwicklung von reinem Abschreiben zu strukturierten Notizen erkennbar.
Herausforderungen und Grenzen
Das System funktioniert nicht für alle Studierenden gleich gut. Folende Effekte konnten wir bisher beobachten:
Unerwartete Belastungen:
- Kontinuierlicher Stress: Regelmäßige Abgaben werden als Dauerbelastung empfunden.
- Kurskonkurrenz: Mehrere Booklet-nutzende Kurse im gleichen Semester können zu Überlastung führen.
- Motivationsprobleme: Manche Studierende sehen das System als (weitere) lästige Pflicht.
Fairness-Herausforderungen:
- “Schattenmärkte”: unreflektierter Austausch von Booklet-Seiten zwischen Studierenden
- Technische Ungleichheit: Unterschiedliche Voraussetzungen für die Seitenerstellung können zu erheblichen Qualitätsunterschieden führen
- Falsche Sicherheit: Übermäßiges Verlassen auf das Booklet ohne Verinnerlichung
Um die Auswirkungen dieser unerwünschten Effekte zu beherrschen, braucht esRegeln, methodische Anleitung und kontinuierliche Begleitung.
Wir haben unsere Erfahrungen in einem Implementierungsleitfaden dokumentiert:
Wirkung und Vorteile
Geförderte Kompetenzen
Die wöchentliche Verdichtung der Inhalte ist selbst schon eine wichtige Lernaktivität. Studierende entwickeln dabei systematisch wichtige Methodenkompetenzen:
Informationskuration: Relevante Inhalte aus der Stoffmenge auswählen Strukturierung: Komplexe Themen verdichten und organisieren Eigenständige Formulierung: In eigenen Worten zusammenfassen statt abschreiben Selbstregulation: Zeit und Arbeitsbelastung über das Semester planen
Die Anforderung, dass Booklet-Seiten in eigener Handschrift erstellt werden müssen, verhindert gedankenloses Kopieren von Folieninhalten und fördert die aktive Auseinandersetzung.
Prüfungskultur-Wandel
Da Studierende mit ihrem Booklet in der Prüfung potenziell unmittelbar auf die vermittelten Fakten zugreifen können, entsteht für Lehrende ein Anreiz, Fragen zur Wissensreproduktion durch Anwendungs- und Verständnisfragen zu ersetzen. Dies führt wiederum zu sinnvolleren Prüfungsaufgaben und damit zu tieferem Lernen und besserer Kompetenzorientierung.
Studentische Perspektiven
Die folgenden Zitate sind paraphrasierte Rückmeldungen, die wir in Lehrveranstaltungsevaluationen erhalten haben.
Positive Rückmeldungen:
- “Endlich habe ich regelmäßig gelernt statt alles auf den letzten Drücker”
- “Das Booklet gab mir Sicherheit – ich wusste, ich habe meine wichtigsten Notizen dabei”
- “Durch das wöchentliche Zusammenfassen habe ich viel besser verstanden”
Kritische Stimmen:
- “Der Druck, jede Woche abzugeben, war manchmal stressig”
- “In der Klausur konnte ich mein Booklet gar nicht gebrauchen, weil überhaupt keine Definitionen abgefragt wurden”
- “Zeitaufwand war höher als erwartet, besonders am Anfang”
Manche Studierende berichten, dass sie das Booklet in der Prüfung kaum nutzen mussten, weil sie durch das Erstellen die Inhalte bereits verinnerlicht hatten.
Das Booklet-Tool: Software-Unterstützung
Unser Open-Source-Tool automatisiert die organisatorische Abwicklung und macht das System auch für große Kurse praktikabel. Nach der initialen Einrichtung und Methodenvermittlung (am Rande von 2–3 Veranstaltungen, siehe Implementierungsleitfaden ) entsteht für Lehrende kaum zusätzlicher laufender Aufwand.
- Plattformübergreifend: Windows, macOS, Linux – keine komplexen Abhängigkeiten
- LMS-Integration: Vorkonfigurierte Vorlagen für Moodle und ILIAS
- Batch-Verarbeitung: Hunderte Booklets in einem Durchgang
- DSGVO-konform: Lokale Verarbeitung ohne externe Cloud-Dienste
Das Booklet-Tool steht unter MIT-Lizenz zur freien Verfügung:
Häufige Fragen
Können Studierende die Seiten auch digital (getippt) erstellen?
Nein, die handschriftliche Erstellung ist konzeptionell wichtig. Sie verhindert gedankenloses Kopieren von Folien und fördert die aktive Auseinandersetzung mit dem Stoff. Digitale Erstellung würde dem pädagogischen Konzept widersprechen.
Was passiert, wenn jemand eine Woche eine Seite nicht einreicht?
Die Seite fehlt dann im finalen Booklet. Das ist gewollt – der unmittelbare Nachteil in der Prüfung schafft den Anreiz zur kontinuierlichen Mitarbeit. Nachreichungen bei Krankheit können im Einzelfall kulant gehandhabt werden.
Funktioniert das System auch in Online- oder Hybridkursen?
Ja, mit Anpassungen. Seiten können fotografiert und digital eingereicht werden. Die Rückgabe erfolgt als PDF. In der Prüfung kann das Booklet dann digital oder ausgedruckt genutzt werden. Die Handschriftlichkeit bleibt erhalten.
Wie hoch ist der Zeitaufwand für Lehrende?
Initial: 2-3 Veranstaltungen für Einführung und Methodenvermittlung plus Tool-Setup (einmalig ca. 2-4 Stunden). Laufend: Nahezu kein Aufwand dank automatisierter Verarbeitung. Optional können eingereichte Seiten zur Reflexion der Lehre genutzt werden.
Was tun, wenn Studierende untereinander Seiten austauschen?
Klare Regeln von Anfang an: Seiten dürfen konsultiert, aber müssen eigenständig erstellt werden. Unreflektiertes Kopieren schadet letztlich dem Studierenden selbst, da das Booklet dann in der Prüfung weniger hilfreich ist. Erfahrung zeigt: Problem tritt selten auf, wenn der Nutzen klar kommuniziert wird.
Funktioniert das System auch in großen Kursen (>200)?
Ja, das ist einer der Hauptvorteile. Das Booklet-Tool ist für Batch-Verarbeitung konzipiert und kann hunderte Booklets parallel erstellen. Der Lehrendenaufwand skaliert nicht mit der Teilnehmendenzahl.
Wissenschaftliche Publikation
Bitte zitieren Sie folgende Publikation, wenn Sie das Booklet-Konzept in Ihren wissenschaftlichen Arbeiten verwenden.
Herrmann, D. (2024). Klausur‑Booklets zur Stärkung von Methodenkompetenzen und zur Reduktion von Prokrastination. In T. Witt et al. (Hrsg.), Diversität und Digitalität in der Hochschullehre (S. 169–180). Bielefeld: transcript Verlag. [DOI 10.14361/9783839469385‑013]